Bericht

Zeugenbericht der Journalistin und Schriftstellerin Ellen Marga Schmidt, 1919 - 1983


Eine regelmäßige Besucherin des „Salons“ von Frau Erna Heinen-Steinhoff im Schwarzen Haus zu Solingen war die Schriftstellerin Frau Ellen Marga Schmidt. Die Journalistin und Autorin kam kurz nach dem Kriegsende zum Salon und schrieb hierzu ein Essay, welches sie 1982 in den „Mitteilungen des Freundeskreises Erwin Bowien e.V.“ (Heft Nr. 05 - 1982) unter dem Titel „Ein Ort – und eine Wirklichkeit“ veröffentlichte.


Erwin Bowien (1899-1972): Graphitstudie von Ellen Marga Schmidt im Salon des Schwarzen Hauses, ca. 1950
Erwin Bowien (1899-1972): Graphitstudie von Ellen Marga Schmidt im Salon des Schwarzen Hauses, ca. 1950

Hier einige Auszüge aus dem Text:

„... jene kurze Zeit zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und den Pariser Verträgen, den ersten, die mit der Bundesrepublik Deutschland als einem politischen Gebilde geschlossen wurden, präsentieren sich, zumindest in der Rückschau – wenngleich vor dem Hintergrund materieller Dürftigkeit in nahezu jeder Hinsicht oder eben deshalb – als Jahre voll aufkeimender Hoffnung, voller Anfänge. ... Noch vor dem ein Schnitt durch die Währungsreform (1948) trafen sich im Wasserschloss Hackhausen bei Solingen – Ohligs im Rahmen einer jüngst zusammen getretenen Vereinigung Journalisten, Schriftsteller und solche, die sich berufen fühlten. Bald standen bekannte Namen im Mittelpunkt, ... Lesungen, Prosa und Gedichte. Es wurde aufmerksam zugehört, geprüft, zögernd verworfen, viel bestätigt. Am Schluss stand ein rundlicher, knapp mittelgroßer Mann auf, der Maler und Schriftsteller Erwin Bowien, schlug als nächsten Tagungsort das Haus Heinen (das schwarze Haus) in Solingen – Höhscheid vor und lud mit Verve dorthin ein.

So beginnt es: von der Straßenbahnhaltestelle auf der Höhe zieht einzeln und in Grüppchen eine kleine Gesellschaft zur zweiten Tagung der Schriftsteller die leicht abschüssige Neuenkamperstraße entlang.

Nach wechselnden Ausblicken über Wälder und Bergrücken und einer Straßenbiegung endlich das schwarzgrau verschieferte bergische Fachwerkhaus, die doppelgeschossige Front hinter alten Bäumen der Straße zugewandt, weiße, dreimal geteilte Fensterrahmen, grüne Läden und im Hintergrund der schmale rote Backsteinbau, zwei alters verwehte Segelschiffe, ruhend zugleich und treibend. Gegenüber an, auf der anderen Straßenseite, weiter zurückliegend, der eigentliche Ortsteil. Bilder treten aus vielschichtiger Erinnerung an jenes Zusammentreffen hervor, flüchtig, unscharf, kaum mehr fassbar, Gesichter und Stimmen – schwer zuzuordnen. Deutlich aber und vertraut durch folgende Jahre: Familie Heinen und der Freund Bowien.

Dem behenden Maler, der, mit raschen, sicheren Strichen skizzierend, gern beiseite sitzt, geht kein wesentlicher Gedanke, keine interessante Äußerung verloren. Seine manchmal spöttischen Zwischenbemerkungen scheinen ihn sowohl selbst zu stimulieren, als sie auch sein Gegenüber aus der Reserve locken, sodass er im Hervortreten sichtbar wird. Dann greifen seine dunklen Augen zu wie die eines Jägers, und im raschen Aufblicken vom Block zur Person, zwischen Sarkasmus und Bonhommie, zwischen Nähe und einer nur in seltenen Momenten durchbrochenen Distanz, entsteht durch die Herausforderung „Rede, dass ich dich sehe!“ das Bleibende, das Bild.

Hanns Heinen, der Hausherr, Journalist, Verfasser seinerzeit unveröffentlichte Gedichte und Prosa, von schmaler Statur, trotz einer gewissen Behäbigkeit in späteren Jahren, lichtes Haar über stets frischen Gesichtsfarben, unauffällige, randlose Brille, verhaltener Gestus, leise Stimme, „eigentlich“ wie er einmal von sich sagte, „ein Idylliker“. Seine Frau, Erna HeinenSteinhoff in freier, allen zu gewandter Haltung, die Frau auf dem großen Ölbild, Wildnis in Grau, mit hellem Antlitz, heute wie damals.

Die beiden Söhne, Hans – Theo, der Ältere, im Typ dem Vater gleichend, Gunther, dunkel und fest, eher der Mutter Sohn, verlassen nach flüchtig interessierter Visite wieder die Gesellschaft.

Bald, nachdem oben im Haus die Celloübungen verstummt sind, tritt Gabriele, die ältere Tochter, ein. Das schöne dunkle Mädchen mit langen, schwarzen Zöpfen grüßt leise, freundlich verhalten in die Runde, stellt behutsam das große Instrument in die Ecke neben dem Klavier und zieht sich zu aufmerksamer Beobachtung in den Hintergrund zurück.


Erwin Bowien (1899-1972): Erna Heinen-Steinhoff im Gespräch mit einer Besucherin des Salons
Erwin Bowien (1899-1972): Erna Heinen-Steinhoff im Gespräch mit einer Besucherin des Salons

Fast schon mit dem Schlag der Haustür ins Zimmer wirbelnd: Bettina, einige Jahre jünger, als Gabriele, kaum zwölf. Rasch sich orientierend, sucht die „Mammie“ und wird, bei ihr landend, liebevoll aufgenommen. Ihr stürmisches Eindringen ruft allgemeines Schmunzeln hervor, halb geschmeichelt, halb missbilligend, genießt sie die offizielle Beachtung. Ihr Gesicht, bewegt von noch zögernd tastendem Leben in gleichermaßen tief angelegter vitaler Begabung und Gefährdung, eben im Wachstum sich streckend, bleibt einige Augenblicke ruhig gespannt, Blicke aus zugreifenden, dunklen Augen über einer kurzen Nase, einem sensiblen Mund mustern unbefangen die Anwesenden. Dann, als das allgemeine Thema wieder aufgenommen wird, schüttelt sie die gelöste kupferne Haarlocke aus der Stirn, wirft die schweren Zöpfe mit einer gewohnten Bewegung auf den Rücken und läuft, rasch wie sie gekommen ist, davon.

Eine erste, gastfreundliche Einladung an diesem Abend. Es wird spät im kleinen Kreis. Die Gespräche vertiefen sich, Anschauungen und Standorte treten deutlicher hervor. … Lange nach Mitternacht, auf seinen eigenen Werdegang angesprochen, erzählt er (Hanns Heinen). Die Familienherkunft von der deutsch-niederländischen Grenze ist nahezu abgesunken hinter den prägenden Kräften der bergischen Landschaft, mit Schulzeit, frühen literarischen Neigungen, ersten Gedichten. Formende Stationen des Studiums: Münster, das alte Bonn, berufliche Anfänge. Nicht von Überfluss verwöhnt, oft gezwungen, schmal zu entscheiden, stets um das ökonomische Gleichgewicht in geistiger wie in materieller Existenz besorgt, zeichnet er die Jahre in einer alten Mühle im Tal zwischen Wupperbergen, mit seiner Frau Erna, den beiden noch kleinen Söhnen, dem Freund Erwin Bowien, häufig mit stets willkommenen Gästen: glückliche, erfüllte Jahre! „BO“, wie Sigrid Undset, die norwegische Schriftstellerin, den Maler Bowien, dem sie über Jahre hin verbunden blieb, freundschaftlich nannte, liegt vorsichtig Block und Stift beiseite, lehnt sich entspannt zurück und steuert – meist amüsiereliche – Erinnerungen bei, die Erna Heinen–Steinhoff kommentiert.


Erwin Bowien (1899-1972): Abends im großen Salon des Schwarzen Hauses zu Solingen, 1959
Erwin Bowien (1899-1972): Abends im großen Salon des Schwarzen Hauses zu Solingen, 1959

Hanns Heinen ist inzwischen, wie auch später gelegentlich bei Musik oder Vorträgen, zu später Stunde in der steten Überforderung und leichten Ermüdbarkeit seiner zarten Konstitution in einem leichten Halbschlaf eingetaucht, in dem er jedoch zum Wesentlichen hin präsent bleibt. Indes Bo noch einmal zum Stift greift und den scheinbar schlummernden Freund skizziert, entspricht Erna HeinenSteinhoff seinem Wunsch und liest, bevor man sich zur Nacht trennt, ein Gedicht von Hanns Heinen.


Fensterausblick aus dem Salon vom „Schwarzen Haus“, 1959
Fensterausblick aus dem Salon vom „Schwarzen Haus“, 1959

Bo, wie so oft auf Malreise in der Schweiz, seiner Jugendheimat, oder diesseits der Schweizer Grenze in Weil am Rhein, wo seine Mutter lebt. Die Mädchen sind zu dieser späten Morgenstunden noch in der Schule, die Söhne anderswo. Einzutreten in die dämmrige Diele, deren mit Steinzeug belegter Fußboden kühle entströmt, den leisen Geruch nach Äpfeln wahrzunehmen, nach Farbe, altem Holz. Rechts, gleich neben der Haustür, das Atelier von „Bo“, die geschwungene Holztreppe nach oben, wo Hanns Heinen im großen hellen Zimmer über dem verwilderten Garten arbeitet. Links neben der Haustür der Mittelpunkt des Hauses, das geräumige Wohnzimmer, in dem sich Familie, Freunde und Gäste am langen gestreckten Tisch zu Mahlzeiten und Gesprächen treffen. Über der Kredenz aus schön gemasertem Holz, dominierend im Raum, das große Ölbild: Erna Heinen, Ende der 30. Mantel, Hut und Handschuhe in differenzierten, weichen Grautönen. Helles Gesicht unter dunklen Regenschirm. Fernes und Ruhendes im Anflug des lächelnd Bewegtes und Schwindendes im aufsteigend sich verflüchtigenden Rauch der locker gehaltenen Zigarette. Die Decke nicht hoch, sichtbar tragen das Gebälk bis zu den geteilten Gartenfenstern hin, ein Klavier, in einer Ecke bequeme Möbel zum Sitzen. In der Tiefe des Raumes, hinter einem schweren, hellen Vorhang, das kleine von Erna HeinenSteinhoff bewohnte Zimmer, wenig Gegenstände: notwendiges zum Lesen, zum Schreiben, Bücher. Blick aus dem Fenster in alte Bäume und weiter über die Höhen hin.


Fensterausblick aus dem Salon des „Schwarzen Hauses“ auf die Kirche von Solingen Widert,  undatiert
Fensterausblick aus dem Salon des „Schwarzen Hauses“ auf die Kirche von Solingen Widert, undatiert

Einzutreten bei der Tochter des nachmaligen Rektors Steinhoff, zu Mamms, wie sie von der Familie und nahen Freunden, zu Amiela, wie sie von Bo genannt wird – in Anspielung auf den Schweizer Philosophen und Schriftsteller Henri Frederic Amiel und dessen philosophischen Tagebücher, steht die Quelle der Verständigung und in Streit Fragen häufig gemeinsames Regulativ – einzutreten bei Erna Johanna Heinen-Steinhoff, wie sie gern Briefe, auch an nahe Freunde, unterzeichnet, heißt zugleich in einen thematisch weit gespannten, nach vielen Seiten offenen geistigen Raum zu treten, in dem sich aus Erkenntnis und Widerspruch, aus These und Antithese die ihre gemäße schöpferische Äußerung bildet, das Gestaltete, Bleibende: der Aphorismus. Strömendes Bewusstsein vom Werden der Menschheit, der Gleichzeitigkeit von Herkünften und Niedergängen: die frühen orientalischen Hochkulturen und ihre Spiegelung im Epos und Gesetz, Hellas und seine Kunst, Platon, die griechische Dichtung bleiben zugeordnet dem Sinn gebenden Ereignis, ... . Gegen Abend kommt Bo heim, eilige Schritte in der Diele wäre noch die Haustür zufällt. Kaum, dass er sein Gepäck im Atelier abgestellt haben kann, wirbelt, kugelt er ins Zimmer. Im Anzug von unbestimmbaren Braun, Fahrradklammern an den Hosenbeinen, macht er schnellfüßig die Runde: hier eine zarte Berührung, dort ein aufmerksam prüfender Blick, ein Wort, ein Scherz. Indes er sich zu Tisch setzt, beginnt er, zwischen zwei Bissen, sich selbst immer wieder mit prustendem Lachen unterbrechend, seine jüngste Geschichte.

Alle seine Geschichten, so unterschiedlich im Erlebnis, gleichen sich in einem: Mittelpunkt ist der Mensch in seiner umfassenden Fülle von Möglichkeiten. Und immer ist es der Maler, der sieht, der erzählt, gelegentlich hinter einer vorgehalten Frivolität, die leidenschaftliche Anteilnahme und Betroffenheit verbergen soll und alsbald aufgelöst wird. So wie er mit genüsslichem Behagen, oft zur allgemeinen Erheiterung, menschliches Versagen persifliert - wobei seine großen, dunklen Augen unter den buschigen, bis an die Schläfenwinkel herunter reichenden Augenbrauen ernst, und die senkrechten Falten über der Nasenwurzel unbewegt bleiben, ebenso kann er sich in seinem sozialen Engagement ereifern, heftig verteidigen, Anklagen.

... Die Freunde: Erna, einer überspitzten Formulierung lächelnd nachfragend, überzeichnetes gelassen abstreifend, Hanns Heinen, das seinem Wesen Ungemäße mit freundlichem Spott zurückweisend, Gabrieles gezielte fragen, während sie neue Bilder und Zeichnungen konzentriert betrachtet, und Bettinas Frage nach den Büchern. Ja, gewiss hat er sie mitgebracht, natürlich! Auch Robin Hood, sicherlich!

Auch für die junge Schwiegertochter, die im roten Backsteinhaus mit Sohn Hans-Theo und den Kindern wohnt, deren jüngstem Sohn Erna HeinenSteinhoff vor dem zu spät eintreffen den Arzt unerschrocken und mit sicherer Hand ins Leben half, hat er eine Besorgung gemacht, sucht und findet schließlich den erbetenen Gegenstand in der unergründlichen Tiefe einer ausgebeulten Jackettasche. … Bo nimmt den Stift, wendet sich Gabriele zu und beginnt zu arbeiten.

Haus und Garten sind fern gerückt, Lebensuhren abgelaufen. Heraufgeholt aus Abgesunkenem, Überlagertem aber bezeugt sich Bleibendes für alle, die teilhaben durften an den formenden Kräften eines sich immer neu bildenden, neu gestalteten Kosmos, über die zugemessene Zeit hinaus und „in der Erscheinungen Flucht“ ein Ort – und eine Wirklichkeit.

Ellen Marga Schmidt, Usingen, 1982